Central / City / Classic / Scala / Regina, Hof, 27.-30.10.2016
Es ist auf jeden Fall stimmig, diese „Kinonotizen“ mit einem Bericht von den 50. Internationalen Hofer Filmtagen beginnen zu lassen, denn mit den Hofer Filmtagen hat der Hofer Gymnasiast, der der Schreiber dieser Zeilen einmal war, Kino und Film als etwas, das mehr sein kann als bloße Unterhaltung, zuallererst entdeckt. 1988, die 22. Ausgabe, nur zwei Filme beim ersten Mal, kein deutscher darunter, die doch traditionell im Mittelpunkt stehen, sondern Agnieszka Hollands „To Kill a Priest“ und dem noch viel härteren australischen Gefängnisdrama „Ghosts … of the Civil Dead“, dessen berühmtester Mitwirkender Nick Cave mir seinerzeit noch rein gar nichts sagte. Seither habe ich von 28 weiteren Jahren nur zwei ausgelassen, einmal weil weit verreist, und unter unglücklichen Umständen ausgerechnet das vergangene, das sich als das letzte Festival unter der Leitung von Heinz Badewitz erweisen sollte. Reumütig war es dann also auch noch, wenn ich nun zur Jubiläumsausgabe wieder anreiste. Viele Jahre hatte ich die Filmtage als akkreditierter Berichterstatter besucht. Diesmal musste ich nach langer Zeit mal wieder sehen, was ich an Karten bekomme, aber das ging mit weniger Frustrationen ab als befürchtet; das Publikumsfestival Hof ist im großen und ganzen wirklich auch praktisch gut zugänglich (obwohl am Ende fast jede von mir besuchte Vorstellung rappelvoll ausverkauft war). „Der Hund begraben“ von Sebastian Stern wurde als Geheimtipp gehandelt, und das kann ich nur so weitergeben, denn der ging so gut weg, dass ich zu den zwei in Frage kommenden Terminen keine Karte mehr bekam.
Allzu gut nachgefragt waren bemerkenswerterweise auch einige Programme der Retrospektive, die diesmal den Filmtagen selbst gewidmet war. Tom Tykwers Erstling „Die tödliche Maria“ hätte ich schon gern mal wiedergesehen – in DIESER unter so vielen Hof-Entdeckungen hatte ich aber seinerzeit schon staunend gesessen, anders als in Maren Ades „Wald vor lauter Bäumen“, den ich auf der Leinwand dann bis heute nie gesehen habe. Ansehen konnte ich die zwei ersten Programme – jedes galt stellvertretend einem von fünf Filmtage-Jahrzehnten, Dörries „Männer“ lief noch für den Komödien-Boom der 80er. Die frühen aber: Es haut mich immer wieder weg, welche Ambition als bildkünstlerisches Werk manche Filme der 60er, 70er Jahre – Filme, die fürs Kino gedreht waren, nicht fürs Kunstmuseum – haben konnten, welche Freiheiten abseits von realistischem oder pseudo-realistischem Erzählkino sie sich nahmen. Das kann oft auch sehr zeitgebunden und heute kaum noch genießbar sein, aber man spürt auch den Verlust, wenn solche Möglichkeiten heute nicht einmal mehr in mentaler Reichweite erscheinen. Vlado Kristls „Autorennen“ ist die Anwendung des Absurden Theaters auf das Kino, und man sieht, wie es da im Slapstick eigentlich seinen natürlichen Verbündeten und Verwandten hat. Voller durchaus gesellschaftskritischer Anspielungen, die gar nicht überdeutlich ausgespielt zu werden brauchen, ist der Film eine Anreihung anarchischer Einfälle, die immer noch urkomisch sind; ich hatte im vorigen Jahr die „Godot“-Inszenierung am DT in Berlin gesehen und fühlte mich erinnert. Anarchisch, kaleidoskopisch und dabei wirkungsvoll erhellend auch Hans Noevers Interpretation eines Dokumentafilms: „Frankenstein am Rhein“ seziert Fakten und Verklärung aufs Unterhaltsamste, dabei streng als der Lehrfilm stilisiert, als der er vom BR in Auftrag gegeben war. Nur der Boris-Karloff-Verschnitt im chicen weinroten Ledermantel, der sich handlungslos durch die Szenen bewegt, ist irgendwie aus dem Genre gefallen … Der akademischste von Anfang an Wim Wenders mit „Same Player Shoots Again“, im Zentrum die fünfmalige Wiederholung einer einzigen, fast dreiminütigen Einstellung, je wechselnd koloriert, ein rein formales Spiel. Obwohl auch bei ihm Wiederholung als Stilmittel eine Rolle spielt, bezeichnend viel lebenspraller Werner Herzog mit „Letzte Worte“, einer stark inszenierten Doku über einen griechischen Binnen-Migranten wider Willen. Auf diese Kurzfilme für die Anfänge der Filmtage folgte als Repräsentant der politischen (Spät-)70er „Messer im Kopf“ von Reinhard Hauff. Das ist schon einer dieser deutlich gealterten Filme, obgleich die Geschichte eines in (beidseitig) hysterischer Atmosphäre wahrscheinlich zu Unrecht unter Terror-Verdacht Gestellten wieder höchste Aktualität hätte. Aber sie entwickelt sich, aus heutiger Warte, mit Geduld strapazierender Schwerfälligkeit und vielem diskursüberlastetem Ächzen, wogegen auch das ungemein fulminante Spiel des ziemlich jungen Bruno Ganz (noch verblüffend jünger in einer Nebenrolle im All-Star-Ensemble: Udo Samel!) nicht immer ankommen kann.
Dass es mit politisch engagiertem Kino auch heutzutage so eine Sache sein kann, wenn vor lauter gutem Willen der Film vor die Hunde geht, bewiesen im aktuellen Programm besonders einige internationale Beiträge. Schon ins Ärgerliche ging das in Nate Parkers „The Birth of a Nation“. Der Film hat Sundance gewonnen und er vermag so meine Vorurteile über dieses Festival bestärken: gewünschte Message ist wichtiger als filmische Form. Völlig konventionell, in bestenfalls in ihrer Drastik herausstechender Überwältigungs-Ästhetik wird die Geschichte eines Sklavenaufstandes in den amerikanischen Südstaaten erzählt. Viel hollywoodesker geht es nicht; natürlich war „independent“ nie eine klare ästhetische Kategorie, aber mit solchem Action- und Heldenkino wird sie völlig bedeutungslos. Differenzierungen, Brechungen: Fehlanzeige. Immerhin mag die Erkenntnis sein, dass auch ein Aufstand für die gute Sache Gemetzel bedeutet. Freilich geht in den vorherrschenden Naheinstellungen auch der intellektuelle Über- und Weitblick verloren. Man kann sich nämlich durchaus fragen, wie denn eine so dilettantische wie brutale Erhebung überhaupt zum Heldenepos taugt. Recht behält ja der – vom Film als Quisling geschmähte – Mahner, der weiß, dass „wir alle schon tot“ sind. So viele – auch dezidiert unfreiwillige – Opfer auf der eigenen Seite hinzunehmen, ist schon eine sehr spartiatische Definition von Heldentum.
Von der zweiten großen amerikanischen Unterdrückungsgeschichte, dem Genozid an der Urbevölkerung, handelt „Neither Wolf Nor Dog“ von Steven Lewis Simpson. Gut gemeint ist nicht gut gemacht, gilt auch hier, wenn auch anders, inhaltlich harmloser. Zwar ist der 95jährige (sic!) Hauptdarsteller ein Ereignis, aber er allein kann den Film nicht retten, der in erheblicher Breite wohlbekannte Tatsachen belehrend ausbreitet und mit Pathos überhöht, als wären sie ein noch ganz unbekannter, gerade erst frisch aufgedeckter Skandal. Gewiss ist der Film nicht halb so glatt bügelnd wie der vorgenannte, die Natives haben auch ihre rauhen Kanten, und in der Annäherung der Figuren liegt durchaus interessante Dynamik. Die ist aber schon deshalb wieder begrenzt, weil der weiße Autor als Gegenpart eine flache Figur ist, die dann noch viel flacher gespielt wird. So vermag der Film seine Geschichtslektion nicht wirklich als packende Geschichte zu erzählen.
Aber genau das macht natürlich den Unterschied. Auch bei Ken Loach spielt die Message im Zweifel die erste Rolle, aber seine große Qualität ist eben gerade, sie in eine dichte und mitreißende Geschichte zu packen. „I, Daniel Blake“ hat auch ein Festival gewonnen, keine geringere Trophäe als die Goldene Palme in Cannes, und wenn das auch ein wenig viel der Ehre sein mag, ist es zumindest ganz bestimmt nicht anstößig. Mag dieser Daniel Blake auch fast ein bisschen zu gut sein, ist er das als Kontrast zu den Don-Quijoterien mit einer menschenfeindlichen „Sozial“bürokratie, deren böse Darstellung umso gerechtfertigter erscheint, je fulminanter dagegen die Menschlichkeit der Hauptfiguren gezeichnet wird. Und diese sind, selbst in übergroßer Güte, keine Reißbrettfiguren einer wohlmeinenden Theorie, sondern von bebendem Fleisch und Blut, jederzeit lebendig, glaubwürdig, stimmig. SO geht politisches Kino.
Eine ganz private und dann auch noch betont undramatische Geschichte ist die von „Paterson“, dem dichtenden Busfahrer, der heißt, wie seine Heimatstadt, ein Film von Jim Jarmusch, den man, so wahnsinnig das klingen mag, mit Fug und Recht als Ziehkind der Hofer Filmtage bezeichnen kann (siehe die Entstehungsgeschichte von „Stranger Than Paradise“!). (Auch zumindest die deutsche Rezeption von Mike Leigh, Atom Egoyan und vielleicht sogar David Cronenberg beginnt im wesentlichen in Hof, das nicht nur für viele deutsche Filmemacher Sprungbrett-Charakter hatte.) Wenn man Jarmusch und seine stets durchgestylte Ästhetik generell eher nicht so mag, wird sich das ziemlich sicher auch auf diesen Film erstrecken. Andernfalls hat das Spiel mit Routinen und ihrer Variation aber einen sehr charmanten Reiz, schön anzusehen sind die gezirkelten Bilder ohnehin. Wobei das ganze letztlich schon nur deshalb als Erzählung funktioniert, weil, der Prämisse zuwider, dann eben doch etwas Einschneidendes passiert.
Schmählich vernachlässigt habe ich in diesem Jahr den Dokumentarfilm, wo dieser doch in jüngeren Jahren im Hofer Programm immer mehr Bedeutung gewonnen hat. Gesehen habe ich nur „I Had Nowhere To Go“ von Douglas Gordon, beruhend auf den Tagebüchern von Jonas Mekas. Damit wird dieser inhaltlich zwar nicht als der Experimentalfilmer thematisiert, sondern als der jüdische Flüchtling aus dem Baltikum zwischen Hitler und Stalin, doch in der Form wird er experimentalfilmisch gespiegelt in einem Werk, das fast nur Hörfilm ist, nur wenige Passagen mit Bildern jenseits einer Grau- oder Monochrom-Eintönung des leeren Bildes unterlegt, als Antwort auf den ständigen Alles-Filmer Mekas (der nur für vielleicht eine Minute selbst im Bild ist, aber stets präsent mit seiner vortragenden Stimme). Zweifellos faszinierend, aber für mich war’s, zu diesem Zeitpunkt, über fast 100 Minuten eingestandenermaßen doch zu viel an Leerstelle.
Der deutsche Film, das eigentliche Thema in Hof, war im Jubiläumsjahrgang auch mit den alten Meistern prominent vertreten, wobei ich Handke/Wenders „Die schönen Tage von Aranjuez“ nicht gesehen, und man kann schon sagen: gemieden, habe; in freudiger Erwartung begab ich mich dagegen in Herzogs „Salt and Fire“ – doch gebietet es der Respekt für den Mann und sein Lebenswerk, darüber freundlich zu schweigen. Fast schon so altmeisterlich (noch mehr als die anderen würde er diese Benennung sicher hassen) darf in Hof Dominik Graf gelten, der in „Am Abend aller Tage“ eine an den Fall Gurlitt angelehnte Geschichte um verschwundene, vielleicht oder doch nicht geraubte Kunst erzählt, aber in dem eher uninspiriert plätschernden Film seine so oft bewunderte Dringlichkeit, Verve und Direktheit nicht erreicht. Wenn die Hauptfigur schon ein Arschlochtyp sein muss, dann doch bitte wenigstens kein langweiliger.
Von der jüngsten Generation wiederum habe ich dieses Jahr nichts gesehen, da muss man meine Auswahl wohl als etwas wenig entdeckungslustig schelten, ich habe mich ans vermeintlich Bewährte gehalten. Und prompt noch einmal Mittelmaß bekommen, ziemlich enttäuschend Christian Schwochows „Paula“ (Modersohn-Becker), in dem die brillante und nuancenreiche Vitalität von Carla Juri in der Hauptrolle der einzige Lichtblick ist. Inszeniert aber ist der Film in dröger Biederkeit; als ob man bei solchem Thema nicht gewarnt sein müsste vor jeder Annäherung ans Kunstgewerbe, wird hie und da sogar die Grenze zum Kitsch, nun ja, zumindest berührt. Dagegen muss man bis kurz vor dem Ende warten, bis ein Film, in dem bildende Kunst eine wesentliche Rolle spielt, selbst einmal einige Bilder findet, die originell und stimmig sind und sich einprägen; über weite Strecken sind sie so abgegriffen wie nur geht.
Das würde Chris Kraus, nach allem, was man von ihm kennt, wahrscheinlich nie passieren, auch wenn man im Aberwitz seiner Tragikomödie „Die Blumen von gestern“ (der Titel ist doof) kaum Muße hat, Bilder in sich aufzusaugen; doch sind etliche davon stark genug, dass sie sich noch nachträglich rekapitulieren lassen. Es ist schon vieles sehr konstruiert in dieser Geschichte um einen Kongress zur Holocaust-Forschung; jede der Hauptfiguren schleppt ihre Neurosen zentnerdick hinein, dass man schon manchmal mit den Augen rollt, wenn sie aufeinander krachen; und mancher Erzählfaden ist schlicht schlampig entwickelt. Doch ergibt sich im Verlaufe dieser Tour de Force doch erstaunlich viel Ernsthaftes zur Vergangenheit, dem Umgang mit ihr und der lebenspraktischen Bewältigung der Gegenwart. Vorsorglich festzuhalten auch: der historische Ernst des Themas wird kein Gran an die Komödie verraten. Da ist schon die schuld(komplex)beladene Hauptfigur vor, in welcher Lars Eidinger einmal mehr ein Ereignis ist. Er trägt den Film schon fast allein.
Kraus durfte die Filmtage eröffnen, was schon allein deshalb verdient ist, weil er nicht vergessen hat, was er ihnen seit seinem fulminanten Durchbruch mit „Vier Minuten“ zu verdanken hat. „Für Heinz“ [Badewitz] ist sein neuer Film, und die Danksagungen erwähnen ihn nochmals, „für alles“. Dem hätten sich, gerade dieses Jahr in Hof, viele angeschlossen. So plakativ deutlich muss man sich aber dann eben auch erst einmal entschließen es zu sagen.
Aus den online verfügbaren Beiträgen aus den Feuilletons hebe ich gerne hervor den sehr treffenden Bericht von Christine Peitz im Tagesspiegel.