Central-Kinos / Scala / Regina, Hof, 26.-29.10.2017
Vier Tage konnte ich die 51. Hofer Filmtage besuchen, meine filmische „Heimatbasis“, zum zweiten Mal ohne ihren Gründer Heinz Badewitz, zum ersten Mal unter der vollen Verantwortung des neuen künstlerischen Leiters Thorsten Schaumann. Der Wechsel hat zu keinem Bruch geführt, als altgedienter Hofer mag ich, vielleicht darob etwas konservativ, auch nicht einstimmen in die von manchen geäußerte Skepsis, es ändere sich sogar zu wenig. Mir schienen die Neu- und Erstlinge noch mehr im Vordergrund zu stehen als ohnehin, und die ‚Bestandspflege‘ etwas zurückzutreten; vielleicht ist diese Beschreibung aber auch schon überzeichnet. Ohnehin ist jede individuelle Filmauswahl natürlich immer nur ein kleiner Teil vom ganzen und zwangsläufig verzerrend.
Die Hofer Filmtage sind immer noch sehr ausdrücklich ein Festival ohne Wettbewerb, aber Preise gibt es inzwischen schon einige. Die beiden, die einem Wettbewerb im Programm am nächsten kommen, werden nunmehr auch mit einer weiteren Wiederholung des Siegerfilms am abschließenden Sonntag begangen. Das ist eine nette Gelegenheit, am Ende doch nicht gerade das zu versäumen, was gewissermaßen das offizielle Qualitätssiegel trägt, zu den wichtigsten Beiträge gehört zu haben. In diesem Jahr ging der Förderpreis Neues deutsches Kino an „Drei Zinnen“ von Jan Zabeil, der die Filmtage bereits eröffnen durfte, und der erst zum zweiten Mal verliehene Heinz-Badewitz-Preis für einen ersten langen Film an „Lux, Krieger des Lichts“ von Daniel Wild. Zwei nachvollziehbare Entscheidungen.
„Lux“ ist ein Superheld in Berlin. In seinem Kostüm, unter seiner Maske steckt Torsten, ein schüchterner und einigermaßen naiver Idealist. Seine Heldentaten sind kleine Gesten, am Rande des Alltags etwas Gutes zu tun: die nicht gebrauchten Brötchen im Coffeeshop vor dem Wegwerfen zu bewahren und stattdessen an Obdachlose zu verteilen, zum Beispiel. Das ist dann aber auch wieder ein Film im Film: Torsten-“Lux“ wird von zwei jungen Filmemachern als dankbarer Protagonist entdeckt, ein Produzent von Online-Medien steigt ein – unter der Bedingung, dass das Superheldentum schon ein bisschen spektakulärer werden sollte. Zwar wird mit Torstens „Authentizität“ gewuchert, aber seine Geschichte zunehmend manipuliert. Der Film ist ein erfreulich unbekümmertes Überkreuzen und Verschneiden sehr verschiedener Genres und schafft es mit großer Präzision von Buch, Regie und Spiel, sehr verschiedene Emotionen zu bedienen, ohne darin billig zu werden. Er wirbt durchaus für ‚das Gute‘, preist den Mut, Gutes einfach einmal zu tun. Aber das kommt nicht als dick aufgetragene Botschaft, sondern mit Witz gebrochen und überaus unterhaltsam. Und inmitten eines wunderbaren Ensembles spielt Franz Rogowski (nach u.a. „Love Steaks“ zuletzt bei Haneke in „Happy End“) den Held von nebenan sehr zurückgenommen und dabei ungemein präsent: einmal mehr ganz großartig.
„Lux“ ist von schöner Leichtigkeit, „Drei Zinnen“ fast der Gegenentwurf: ein Felsbrocken von einem Film, wie aus der titelgebenden Dolomiten-Landschaft ins Kino geworfen, der Landschaft, die dem Film mehr als nur Kulisse ist, eher ein Ereignisraum, der mit dem Geschehen eine Wechselbeziehung eingeht. Die Bilder und die Räume, die sie erschließen, spielen so etwas wie die eigentliche Hauptrolle, und da sie das überzeugend und schlüssig tun, ist das allein schon sehr zu loben. Ob die Entwicklung der Erzählung um eine Familie, in der der Sohn den neuen Mann an der Seite der Mutter nicht anstelle seines Vaters akzeptieren kann, gleichermaßen schlüssig ist, kann man vielleicht bestreiten. Sie beschreitet aber den Weg in das große Drama mit innerer Zwangsläufigkeit und der archaischen Wucht und Unerbittlichkeit der Berglandschaft, in deren Ruhe die familären Beziehungen urlaubend doch gerade stabilisiert werden sollen. Der Mann und der Junge aber geraten buchstäblich in einen Existenzkampf, so elementar wie grausam.
Ein wenig gespiegelt, sind die Konflikte gar nicht so ganz anders in Julian Pölslers „Wir töten Stella“, und dann hat der österreichische Regisseur zuvor mit „Die Wand“, wie das neue Werk nach einer literarischen Vorlage von Marlene Haushofer, auch noch einen Film gedreht, in dem eine alpine Landschaft wesentlicher Bestandteil eines dramatischen Geschehens ist. Vielleicht fehlt nun gerade die Schroffheit der Berge, vielleicht ist die unterkühlte Domestiziertheit eines großbürgerlichen Haushalts solch dramatischem Temperament ein doch zu glatter Widerstand. (Ich bin mir bewusst, dass die Aussage allein schon mit dem Verweis auf Thomas Mann leicht in Zweifel zu stellen ist. Ist aber auch nicht Film, sag ich jetzt mal so dahin.) Jedenfalls gefällt mir viel sehr gut an „Wir töten Stella“ und erscheint mir der Film doch misslungen. Die große Geste, das unterschwellige Unheimliche, das Schauspiel (Gedeck! Brandt!) sowieso. Aber wenn das Kammerspiel statt der Hütte am Talschluss die Stadtvilla zu bespielen hat, wird aus Stillstand schneller Langeweile. Innerer Monolog ist nicht gerade die filmaffinste aller literarischen Techniken, und vielleicht braucht er dann allzu dringend eine Felswand, um im bewegten Bild überzeugend widerzuhallen.
An deutschen Spielfilmen weiterhin gesehen: „Macht euch keine Sorgen“ von Emily Atef um eine Familie, die ihren Sohn fassungslos an den IS verliert, zurückbekommt und nicht weiß, was sie da zurückbekommt: einen Schläfer vielleicht? Sorgsam erzählt, aber doch sehr Fernsehen. Hat hier das Thema was von „Homeland“, erinnert in „Rewind“ von Johannes Sievert die Titelmusik ein bisschen zu sehr an die der amerikanischen Serie. Der Film wäre grob ein Tatort der besser thrillerigen Varietät, wollte er nicht plötzlich via Quantenphysik bei Zeitreisen landen. Höchst Unwahrscheinliches kann ein schönes Gedankenexperiment ergeben in Zukunftsszenarien, oder wahlweise in artifizieller Inszenierung; mit dem dokumentarisch-realistischen Habitus verträgt sich die halbe Science Fiction aber überhaupt nicht.
Vor den richtigen Dokus noch ein Biopic: Die Italienerin Susanna Nichiarelli stellt in „Nico, 1988“ die letzten Lebensjahre der Sängerin nach, die gleich zu Beginn in einem Interview der Frage, ob sie etwas von Velvet Underground erzählen wolle, ein sehr überzeugendes „No“ entgegenrotzt. Ihre Agenda ist längst eine viel persönlichere als drei Songs aus fremder Feder, die nun der Rest ihrer Berühmtheit sind. Ihren Kampf um Leben und Werk schildert der Film, durch szenisches Gespür und tolle schauspielerische Leistungen (als Nico, auch singend, die Dänin Trine Dyrholm), packend und auf kitschfreie Weise anrührend.
Auf ein Leben zurück blickt auch ein Dokumentarfilm von zweien, die man eher von fiktionalen Arbeiten kennt, Dominik Graf und Martin Gressmann: „Philip Rosenthal“, der Unternehmer, der nicht an den Kapitalismus glaubte, wie ein Untertitel erläutert. In Hof, 25 km von der Porzellanstadt Selb entfernt, eine wohlbekannte Größe, über die sich dennoch in dem Film viel lernen lässt. Auf die Kapitalismuskritik kommt er dann auch noch, aber so ungefähr den halben Film lang wundert man sich etwas über den Untertitel, weil erst mal alles andere aus dieser ungemein reichen Biographie zumindest angerissen wird, und jemand wie Graf natürlich nicht an der bildwirksamen Sinnlichkeit der Porzellanherstellung vorbeigehen kann. Viel Schönes, dramaturgisch flott, aber auch so viel reingepackt in das Ein-Stunden-Fernsehformat, dass mehr Konzentration auf weniger vielleicht doch überhaupt mehr gewesen wäre.
Das kann natürlich auch oder erst recht in längeren Formen gelten, und in anderer Weise galt es für „Jörg Schmidt-Reitwein: Sehweisen“ von Heiner Heinke. Der herausragende Kameramann, der, Selbstaussage, „gerne ins kalte Wasser springt“, kein Abenteuer scheut und schon deshalb kongenialer Partner von Filmverrückten wie Herzog oder Achternbusch werden konnte, hat viel zu erzählen, bei dem man ihm gerne zuhört. Der Film verortet ihn auch schön, wo er heute ist, in seinerseits gelungenen Bildern, die noch übertroffen werden von den ungemein suggestiven Ausschnitten vor allem früher Herzog-Filme, die man sofort sehen will. Aber Heinke verbeißt sich für bestimmt ein Drittel des Films auch in der äußerst privaten Geschichte des alleinerziehenden Vaters Schmidt-Reitwein und seiner Tochter, bei der mir zunehmend unbehaglich wurde. Das geht mich nichts an, das ist mir zu indiskret. Ich verstehe schon, dass er da eine gute Geschichte sah; aber die bitte fiktionalisiert.
„À la recherche des femmes chefs“ macht sich Vérane Frédiani, oder auch auf die Spurensuche danach, warum weibliche Chefköche vor allem in der Spitzengastronomie eher selten, und noch schwerer zu finden sind. Dem offenen oder unterschwelligen Machismo und Sexismus, der in der Küche und am Tisch in erschreckendem Maße herrscht, widmet sie sich ebenso wie den dann eben doch existierenden Gegenbeispielen. Eine konventionelle, aber in ihrem Engagement mitreißende Dokumentation.
Erschreckend ist dann erst recht, was Barbet Schroeder, langgedienter Regisseur zum Teil berühmter Spielfilme („Barfly“, „Kiss of Death“), in „Le Vénérable W.“ aus Myanmar zu berichten hat. Wirathu der Ehrenwerte ist ein prominenter buddhistischer Mönch in dem Land, aus dem die muslimische Minderheit mittlerweile zu großen Anteilen flieht. Wirathu ist mit ruhiger Stimme ein Hassprediger, gegen den die westlichen Muslimhasser fast wie Chorknaben wirken. Er pflegt den lachhaften Verfolgungswahn einer 88%-Mehrheit gegen eine 4%-Minderheit und ruft buchstäblich zu deren Vernichtung auf, in explizit rassistischer Abgrenzung. Die entsprechenden Leitsätze lässt er die Zuhörer seiner Predigten einen nach dem anderen nachsprechen, Gehirnwäsche plumpester Art, aber zweifellos effektiv in einer Kultur, in der die Mönche die wichtigste geistige Autorität darstellen. Man tut auch gerne so, als ob man auf aktuelle Bedrohungsszenarien reagiere, was Schroeder zu konterkarieren weiß: mit Ausschnitt einer Dokumentation von 1978. Da schwärte der Hass schon ganz genauso. Natürlich gibt es Gegenstimmen, die auch zu Wort kommen. Vielleicht nehmen die ihre buddhistischen Werte zu ernst: sie sind sanft, sachlich; benennen, aber scheuen sich zu verurteilen. Man hört sie kaum.
Kehren wir zuletzt zurück in einen näheren Raum, den mediterranen: Hier hat ja bekanntlich allein in Tunesien der ‚arabische Frühling‘, der so viele Hoffnungen geweckt hat, auch zarte Pflänzchen einer möglicherweise nachhaltigen Entwicklung hervorgebracht. Um die ‚Arabellion‘, den Stand heute und den Kampf um das Erreichte dreht sich, als Spielfilm, „Demain dès l’aube“ von Lotfi Achour. Ein Geschehen in der letzten Nacht vor dem Machtverzicht des autoritären Präsidenten Ben Ali ist zum Geheimnis zweier ungleicher junger Frauen und eines noch jüngeren Jungen geworden; ein durch Brutalität aufgefallener Polizist ist zur andauernden Bettlägerigkeit verletzt worden; drei Jahre später soll der Fall juristisch aufgearbeitet werden, aber die Frauen versuchen den zu Unrecht beschuldigten, flüchtigen Jungen zu beschützen. Die Geschichte ist spannend, ohne es sich zu einfach zu machen. Vor allem aber streut der Film immer wieder Bilder hinein, die innehalten im Geschehen und poetisch über es hinausweisen. Ein befreiter Tanz auf den Dächern, als die Nachricht vom Ende des Herrschers verkündet wird, ein Moment des Glückes – bis von der Straße unten der Donner eines Schusses heraufhallt. Ein starker Film.
Solche dreht auch Tony Gatlif, ’nebenan‘ in Algier geboren, halb Kabyle, halb Rom, Franzose, Musiker, Filmemacher. Ihm galt die diesjährige Retrospektive. Den Roma ist ein beträchtlicher Teil seines Werkes gewidmet, mehr aber noch, wenn man dies vom Ethnischen ablöst und auf Strukturen sieht, die man ihnen, sicher vereinfachend (aber so ist das mit Strukturen nun mal) zuschreibt: Etwas Nomadisches, irgendwie Unbehaustes und Migrantisches haftet seinen Filmen nahezu immer an, von Menschen welcher Herkünfte sie auch handeln. Und Musik! Die schreibt er im Zweifel selbst und sie spielt anscheinend immer eine große Rolle. Drei Filme aus der Reihe habe ich gesehen. „Gadjo Dilo – Geliebter Fremder“ (1997) ist sein wohl bislang bekanntester Film. Ein junger Franzose (Romain Duris) reist einem Lied hinterher, das sein Vater geliebt hat. Er wird dessen Sängerin auch in dem Roma-Dorf in Rumänien nicht finden, aber er lernt viel über sich selbst, Sehnsüchte, Orte und Ortlosigkeit. Der Film kreist sehr, das Fokloristische dominiert, zum Kitsch ist es entschieden zu rauh, aber ein bisschen oberflächlich bleibt es schon eher.
Aktueller Anlass der Reihe ist „Djam“, der erst noch über ein paar weitere Festivals tingelt, bevor er Anfang 2018 einen regulären Kinostart in Deutschland erleben soll. Die Musik ist diesmal der Rembetiko, die dem Film schon allein ein interkulturelles und migrantisches Thema einschreibt: Ist es doch die Spielart griechischer Volksmusik, die eigentlich aus Kleinasien stammt, viel Türkisches in sich trägt und zur Definition kam in der Selbstvergewisserung nach der „Kleinasiatischen Katastrophe“ und der Remigration der kleinasiatischen Griechen ins europäische Mutterland. Im Spannungsfeld dieser beiden Länder bewegt sich, ganz zwanglos, die Filmerzählung. Sie bewegt sich auch frei von Erzählkonventionen, manche Unwahrscheinlichkeit im Handlungsgang muss man in Kauf nehmen. Die Erzählung ist nur ein Vehikel, der Text ergibt sich in der Anreihung von Szenen, die mehr beiläufig verknüpft sind. Ein ungemein sinnliches Kino ist das, eine Feier des Lebens in seinen glücklichen wie seinen traurigen Momenten. Und alles andere als eskapistisch: Die griechische Wirtschaftskrise hat ihre starkem Szenen. Und erst recht kann ein Film, der auf Lesbos beginnt und endet und dazwischen hin- und herreist, das Flüchtlingsthema nicht auslassen. Er kondensiert es in einem Bild, das wohl schlichtweg Dokumentation ist, aber umso ergreifender. Was sollte man es beschreiben, man muss es sehen. Vergessen wird man es dann nie mehr. Es ist kein schlimmes Bild, nicht vordergründig. Es verweist. Und deshalb ist es groß und unwiderstehlich.
In „Exils“ von 2004 sehen wir abermals Romain Duris als Zano, Sohn von ‚Pieds-noirs‘, den kolonialen französischen Siedlern in Algerien, mit seiner arabischstämmigen Freundin Naima (Lubna Azabal). Gemeinsam gehen sie den umgekehrten Weg, ihren algerischen Wurzeln nach. Ein fabelhaftes Bild macht deutlich, wie sie gegen den Strom schwimmen, wie ihnen eine Menschenmasse entgegenkommt, in der sie sich verlieren als die einzigen in der Gegenrichtung. Was sonst unterwegs passiert, ist ganz nett oder auch im einzelnen irrelevant. Am Ende in Algiers aber erwartet Naima eine Art Exorzismus, eine rituelle Trance. Das ist wirklich sensationell mit der Handkamera auf Film gebannt, man empfindet das Erlebnis beinahe selbst. Und die Szene löst sich auf in einer stillen Kreisfahrt um das Paar, auf sie blickend, nachdem es früher im Film zweimal Kreisfahrten, nach außen blickend, gegeben hatte. Sie haben sich gefunden, sie haben einen Ort gefunden. Wirklich großes Kino.